Ist Laufen postfaktisch?
Ist Laufen postfaktisch? Lara Lauf beschäftigt sich mit der Frage, ob das Wort des Jahres 2016 auch für das Laufen gilt.
Plötzlich ist alles postfaktisch.
Als Ausdauersportlerin mit Hang zum Marathon darf ich von mir selbst sagen, einen langen Atem zu haben – und eine schier endlose Ausdauer. Irgendwann ist aber auch der fitteste Gaul totgeritten. Postfaktisch hier und postfaktisch da, wir tanzen Ringelreihe, trallalalalala!
Spätestens seit die Gesellschaft für Deutsche Sprache im Dezember 2016 „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016 gekürt hat, ist es aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Aber eigentlich hat es schon viel früher so richtig Fahrt aufgenommen. Das Kunstwort ist eine freie Übersetzung des englischen post truth – wörtlich übersetzt eigentlich „nach der Wahrheit“. Und streng genommen ist damit gemeint, dass die Wahrheit ja eigentlich nicht so wichtig und sehr, sehr biegsam ist – vor allem, wenn es einem in den Kram passt. Offizielle Lesart ist allerdings, dass damit gemeint ist, dass in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion zunehmend Emotionen wichtiger seien als Fakten.
Eine Grundlage, auf der Donald Trump die US-Wahlen gewonnen hat. Nachweislich waren bis zu 80% seiner Aussagen im Rededuell mit Hillary Clinton schlicht und einfach falsch. Aber das störte so viele Wähler so wenig, dass es für einen Wahlsieg für Trump gereicht hat. Donald Trump has been elected 45th President of the United States of America.
Sie, die Wähler, waren bereit, selbst offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Bevor wir uns huldvoll selbst auf die Schulter klopfen und sagen, so etwas könne es auch nur in Amerika geben, werden wir auch schon durch AfD, Pegida und andere eines besseren belehrt. Die Franzosen haben dafür Marine Le Pen und die Holländer Geert Wilders vom Brexit erst gar nicht zu reden – auch dort wurden von vorne bis hinten mit erlogenen „Fakten“ argumentiert.
Früher wurden all diejenigen, die es sich in der politischen Mitte bequem gemacht haben, als bieder und langweilig gebrandmarkt. Heute finden wir dort die neue Elite. Es gehört viel Engagement dazu, eine dezidierte Meinung zu haben und gegen Attacken aus dem linken und rechten Spektrum zu verteidigen. Viel einfacher ist es, mit einigen hundert Anhängern laut zu schreien „wir sind das Volk!“ oder auf Facebook unkritisch erstunkene und erlogene Geschichten zu Liken und zu verbreiten, weil sie ja postfaktisch irgendwie stimmen könnten.
Postfaktisch ist das hässliche Gesicht der Modernen. Aber:
Was hat postfaktisch mit Sport zu tun?
Im Laufsport gibt es das Postfaktische ebenfalls: wenn der nette Laufbekannte schon seit vielen Jahren läuft und plötzlich seine 10-Kilometer-Bestzeit von 39:15 Minuten innerhalb eines halben Jahres auf 37:08 verbessert, kommt man schon ins Grübeln. Da denkt man eher: „wo hat er bloß das Epo her?“ als „wow, was für eine tolle Leistungssteigerung!“ Die postfaktische Erklärung ist aber die tolle Leistungssteigerung und wer da mithalten möchte, muss ebenfalls Dopen. Wohl einer der wichtigsten Gründe für das umfangreiche Doping im Amateursport.
Irgendwie wundern sich auch erstaunlich wenige Leute, wie sich innerhalb von zwei Jahrzehnten die Marathonbestzeit um sagenhafte zehn Minuten steigern konnte. Das hat – postfaktisch lässt grüßen – selbstverständlich ausschließlich mit den immer besseren Trainingsprogrammen der Athleten zu tun. Und irgendwie auch damit, dass sie fast alle aus Afrika kommen.
Das zeigt: im Grund genommen ist postfaktisch ein uralter Hut. Nur kam es 2016 in einem schönen neuen Gewand und mit einem griffigen Wort daher. Nehmen wir einmal die FIFA: der Welt-Fußballverband ignoriert Fakten und Tatsachen schon seit vielen Jahrzehnten. Mit außergewöhnlichem Erfolg! Die kreativsten Verschwörungstheorien von Oliver Stone oder die reißerischsten Stories von Roland Emmerich nehmen sich dagegen aus wie Kinderkram. Das hat schon 1966 mit dem Wembley-Tor begonnen und in den darauffolgenden Jahrzenten wurden endlos viele Tore gegeben, bei denen der Ball die Torlinie nachweislich nicht überschritten hat. Und die Vergabe von Welt- und Europameisterschaften? Sie wird selbstverständlich postfaktisch gehandhabt. Wobei immer wieder der unschöne Verdacht auftauchte, dass Schmiergelder flossen.
Die Spieler aber halten es mit Sepp Blatter: Fakten werden einfach generell überschätzt. Wen interessiert die Wahrheit, wenn sie sich nicht zum eigenen Vorteil nutzen lässt? „Die Hand Gottes“ eines Diego Maradonas bei der Weltmeisterschaft 1986 klingt so viel glorreicher als das hässliche Wort „Handspiel“.
Wozu braucht einer wie Marco Reus einen Führerschein, wenn er mit seinem Aston Martin in eine Polizeikontrolle in der Dortmunder Innenstadt fährt? Pardon: er konnte ja bei der Polizeikontrolle am 18.03.2014 einen Führerschein vorzeigen. Allerdings einen niederländischen und gefälscht war der auch noch. Seit September 2011 hat er insgesamt fünf Bußgeldbescheide wegen überhöhter Geschwindigkeit erhalten, ohne überhaupt die Fahrerlaubnis zu besitzen – aber schon da wurde einfach postfaktisch darüber hinweggesehen.
Als er am 16.08.2016 endlich die Führerscheinprüfung bestanden hat, haben die Medien einen Salto geschlagen und allesamt darüber berichtet. Als ICH meinen Führerschein gemacht habe, hat das irgendwie niemanden besonders interessiert.
In der Politik ist postfaktisch nicht nur bekannt, sondern das Postfaktische ist oft die Essenz politischen Handelns. Konrad Adenauer hat es eloquent auf den Punkt gebracht: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“
Helmut Kohl sprach im Zuge der Wiedervereinigung von „blühenden Landschaften“ in den fünf neuen Bundesländern. Und zwar – ganz postfaktisch – nicht irgendwann, sondern sehr bald. Oskar Lafontaine trat als SPD-Kanzlerkandidat gegen ihn an, spielte die Kassandra, wies auf die steigende Staatsverschuldung, unausweichlichen Steuererhöhungen und explodierenden Kosten hin. Zusammengefasst sagte er also, dass die Deutsche Einheit nicht zum Nulltarif zu haben ist, sondern richtig teuer werden wird. Im Ergebnis stürzte die SPD in der Bundestagswahl von 37 Prozent auf 33,5 Prozent ab, die CDU/CSU holte 43,8% der Stimmen und stellt erneut den Kanzler.
Fazit: die Menschen wollten belogen werden – oder zumindest die Lüge glauben. Recht hatte aber nicht Helmut Kohl und die CDU/CSU, Recht hatte Oscar Lafontaine. Helmut Kohl aber, der argumentierte postfaktisch. Donald Trump macht das auch – am liebsten über Twitter. Knackig in 140 Zeichen verpackt und ohne unangenehme und kritische Zwischenfragen von Journalisten wie sie während einer Pressekonferenz gestellt werden. Wohl ein wichtiger Grund, warum er seit einem halben Jahr keine Pressekonferenz gehalten hat. Postfaktisch funkelt und glitzert. Aber einer Belastungsprobe hält es nicht stand. Weder in der Politik noch im Alltag und auch nicht im Laufsport.Denn eine Leistung ist eine Leistung – die entweder ganz faktisch erbracht wird, oder eben nicht. Erst mit Doping laufen wir wieder in den postfaktischen Bereich.
Wer mir schreiben möchte, um mich zu ermutigen oder von seinen eigenen Erfahrungen zu berichten, kann das gerne an lara[-ät-]running-life.de tun – ich freue mich!